Auf Einladung des Verbandes Deutscher Realschullehrer (VDR) hat der SPD-Landtagsabgeordnete Stefan Politze am 6. November 2008 bei ihrer Bezirksversammlung im Freizeitheim Ricklingen zur Bildungspolitik gesprochen.

Einer der Schwerpunkte war dabei das bildungpolitische Konzept der niedersächsischen SPD, dass in der Kampagne "Eintrittskarte Zukunft" konkretisiert ist.
Seine Rede folgte eine engagierte Diskussion.

Rede von Stefan Politze auf der Bezirksversammlung des Verbandes der Realschullehrer am 6. November 2008 im Freizeitheim Ricklingen

es gilt das gesprochene Wort

Meine sehr geehrten Dam und Herren,

der Wahlkampf in den USA ist nicht zuletzt durch das Thema Bildung gewonnen worden:

„Die Politik kann nicht alle Probleme lösen. Aber sie sollte die Probleme lösen, mit denen der Einzelne überfordert ist: Uns Sicherheit geben und unseren Kindern gute Bildung. Unser Wasser sauber und das Spielzeug unserer Kinder frei von Schadstoffen halten; sie sollte neue Schulen und neue Straßen bauen und Wissenschaft und Technik für eine lebenswerte Zukunft unterstützen.“

So beschreibt der zukünftige Präsident der Vereinigten Staaten sein Verständnis von den Aufgaben der öffentlichen Hand.

„Gute Bildung für unsere Kinder, neue Schulen und Förderung der Wissenschaft“: Es wäre dringend notwendig, dass ein Wahlkampf in Deutschland mit diesen zentralen Punkten geführt und gewonnen werden kann.

Gute Bildung, neue Schulen, starke Wissenschaft: Das ist der Dreiklang, der aus dem US-Wahlkampf auch ins deutsche Superwahljahr 2009 kommen muss.

Bildungsgipfel enttäuschend

In Deutschland hat vor knapp zwei Wochen der so genannte „Bildungsgipfel“ stattgefunden. Die Bundeskanzlerin hatte die Ministerpräsidenten der Länder zusammen gerufen und wollte außer schönen Bildern auch gute Ergebnisse erzielen.

Ob die Bilder schön waren, können sie selber entscheiden. Die Ergebnisse waren es jedenfalls nicht. Diese Bewertung war fast einstimmig in Presse und bei den Verbänden zu lesen.

Wie aber denken die Betroffenen in der Bundesrepublik Deutschland über den Bildungsgipfel? Das Positive ist, dass die Menschen glauben, dass der Bildungsgipfel notwendig war (96% sagt eine Umfrage). Das Negative: Nur 8% der Befragten gehen davon aus, dass die Ergebnisse des Bildungsgipfels ein Meilenstein sind.

Ich will einen Verband zitieren, dem nicht unbedingt eine kritische Distanz zur Partei der Bundeskanzlerin unterstellt werden kann. Die deutschen Arbeitgeberverbände haben wie folgt geurteilt: „Zu den meisten guten Vorsätzen fehlen messbare Zielmarken, vieles bleibt unverbindlich.“

Das hat der Arbeitgeberverband sehr diplomatisch formuliert. Andere haben da etwas drastischer gereimt: "Bei den Banken sind sie fix - für die Bildung tun sie nix".

Man kann das am Beispiel Niedersachsens an den konkreten Zahlen zeigen.

Zwischen öffentlich unterschriebenem Anspruch und konkreter Finanzplanung sind Welten. Oder noch deutlicher: Worte und Taten des Ministerpräsidenten könnten nicht weiter auseinander liegen.

Entgegen seiner Behauptungen will Herr Wulff die Bildungsausgaben weiter zusammenstreichen.

Schwarz auf Weiß ist in der Mittelfristigen Finanzplanung nachzulesen, dass der Anteil der Ausgaben für Hochschulen, Schulen und Berufsausbildung am Gesamtetat bis 2012 sinkt.

- Im Bereich Hochschulen und Forschung von 8,48 Prozent in 2008 auf 8,13 Prozent in 2012, - im Bereich Schule und Berufsausbildung im selben Zeitraum von 16,17 auf 14,82 Prozent.

Da wird von der Landesregierung versprochen, dass in den kommenden Jahren bei weniger Schülern zumindest die gleichen Mittel wie heute für die Schulen zur Verfügung stehen. „Demographische Rendite“ wird das genannt. Ein Begriff, den ich als etwas zynisch empfinde.

Aber das Prinzip wäre ja richtig: Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln das System verbessern. Nicht weiter Geld aus den Schulen herausziehen. Stattdessen wird hier in Niedersachsen in den Haushaltsplanungen des Landes bereits die nächste Sparrunde vorbereitet.

Das wäre ein klares und wünschenswertes Ergebnis auf dem Bildungsgipfel gewesen. Es ist eine verpasste und verpatzte Chance für Deutschland geworden.

Das ist nicht wegen der schlechten Presse schade – für die Ministerpräsidenten übrigens aller Coleur.

Das ist nicht nur schade, sondern fatal für die Schule, die Schüler, die Lehrerinnen und Lehrer.

Was unternimmt die SPD?

Die SPD in Niedersachsen hat sich jetzt mit einer großen Kampagne zum Thema „Eintrittskarte Zukunft“ im Bereich Bildungspolitik positioniert. „Eintrittskarte Zukunft“ dient dazu, den umfassenden Politikansatz der niedersächsischen SPD in Fragen erfolgreicher Zukunftsgestaltung transparent zu machen. Unser Konzept ist in sich geschlossen und klar.

Es verweist auf die Überzeugung der niedersächsischen Sozialdemokraten, dass nur über einen Neuanfang gerade in der Bildungspolitik alle jungen Niedersachsen eine Chance bekommen werden, an dem großen Potenzial unseres Bundeslandes teilzuhaben.

Damit wendet sich „Eintrittskarte Zukunft“ auch ausdrücklich an alle Eltern und Lehrer in Niedersachsen.

Es geht darum, einige Grundwerte wieder gerade zu rücken. Etwa das Recht auf Bildung: In Deutschland wird über die Bildung nur gesprochen als eine vorbereitende ökonomische Größe – Stichwort Humankapital – .

Das brauchen wir ja auch, aber Bildung und Erziehung sind zu allererst Menschenrechte, dann erst ökonomischer Zweck.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Bildungsungleichheit eines der größten Probleme dieses Land ist und leider unter der jetzigen Regierung auch bleibt.

Denn gleiche Lebenschancen setzen erst einmal gleiche Bildungschancen voraus

Wie sehen wir die Realschule?

Das ist auch die Tradition der Realschule: Die Realschule ist ja von ihrem Geist her nicht die Mittelschule der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Die Realschule ist die Bürgerschule. Und als Bürgerschule war sie schon immer Aufstiegsschule für alle.

Die Realschule steht doch von Ihrer Herkunft her für einen Ansatz, der auf Anerkennung, Förderung und Aufstieg durch Leistung gerichtet ist.

Es muss heute darum gehen, diesen Gründungsgeist der Realschule ins 21. Jahrhundert zu übersetzen. Aus der Bürgerschule des 19. Jahrhunderts muss die Aufstiegsschule des 21. Jahrhunderts werden.

Die Chancen der Realschule werden doch immer stärker genutzt und nachgefragt: 33.422 Schülerinnen und Schüler des 5. Schuljahrgangs im Schuljahr 2008/09 besuchen eine Realschule. Das ist ein Anteil von 39 % und damit der höchste Wert für die Realschule bisher überhaupt.

Unabhängig von allen Debatten um Schulformen und Schulorganisation, die wir in Deutschland und auch in Niedersachsen viel zu detailverliebt führen, ist mir daher die Feststellung wichtig:

Das Verständnis von Schule als Instrument zum Aufstieg muss in das zentrale Blickfeld zukünftiger Bildungspolitik gerückt werden. Und mit diesem Verständnis kann und muss Schule für das 21. Jahrhundert gestaltet werden.

Ich will Ihnen meine Vorstellungen davon in vier Punkten konkretisieren:

1. Schule muss wie die Realschule Chancen für den Aufstieg schaffen

Die wahren Skandale der Schule finden im Kleinen statt: Wenn Kinder benachteiligt werden, wenn ihnen der Mut genommen wird.

Das zeigt sich dann in Zahlen wie diesen:

Wenn die Eltern Abitur haben, sind die Kinder besser in Mathematik. Die Wahrscheinlichkeit im unteren Viertel der Mathematik-Leistungen zu liegen, ist für deutsche Schüler, deren Eltern keine Hochschulreife haben, effektiv drei mal so hoch wie für den Durchschnitt der Schüler.

Wenn die Kinder einen Migrationshintergrund haben, haben Sie im Durchschnitt immer deutlich schlechtere Noten als ihre Mitschüler. Das sind für mich die wahren Probleme an der Schule.

Mein klares Ziel: Schule muss wieder eine Aufstiegsperspektive für Alle haben. Das ist das Kernziel der Bildungspolitik. In unserem Konzept von Schulpolitik wird nicht ausgeschlossen, sondern einbezogen; hier werden keine Mauern hochgezogen, sondern Wege frei gemacht. Ob das in Gesamtschulen funktioniert oder in einer Gemeinsamen Schule – oder welche Lösung sich für ein Land im demographischen Wandel auch anbietet – ist im Vergleich dazu zweitrangig - solange die Marschrichtung “der Aufstieg muss für alle möglich sein” klar ist.

2. Alle müssen sich Schule leisten können

Deutschland ist ein reiches Land. Aber es leistet sich drei Millionen Kinder in Armut. In Niedersachsen wachsen mehr als 16 % der Kinder im Mangel auf. Oft leben sie in isolierten Wohnvierteln. In Kindertagesstätten und Schulen sind hungrige Kinder wohlbekannt. Sie bleiben häufig ohne gute Schulbildung und haben dann auf dem Ausbildungsmarkt kaum Chancen.

Bislang wird mit Flickschusterei reagiert. Hier ein kleines Projekt, dort ein Runder Tisch mit Betroffenen – so täuschen die Verantwortlichen Aktivität vor, man kann das auch „Projektitis“ nennen.

Doch sobald das Thema aus den Medien verschwunden ist, regiert wieder der Rotstift:

Die SPD hat ein umfangreiches und gegenfinanziertes Konzept aufgelegt, um Kinder zu schützen und zu fördern. Die Kernpunkte sind:

- Bildung muss gebührenfrei werden. Kindergartengebühren gehören ebenso abgeschafft wie die Lernmittelfreiheit und der kostenlose Schülertransport eingeführt. - Das Ganztagsschulangebot wird flächendeckend ausgebaut. Alle Eltern, die Kinder und Beruf kombinieren wollen, haben das Recht auf eine Ganztagsschule. Alle Kinder, die nicht unter Druck das ganze Wochenpensum in die Vormittage pressen wollen, haben das Recht auf eine Ganztagsschule. Für mich ist eine funktionierende Ganztagsschule ein Kernstück unserer Bildungspolitik.

- Ich sage aber auch: Für den, der sie nicht haben will, muss es auch andere Chancen geben. Gute Politik, gerade gute sozialdemokratische Politik sollte die richtigen Angebote machen, aber sie sichert auch die freie Entscheidung der Eltern. - Die Sprachförderung soll zum Schwerpunkt in unseren Bildungseinrichtungen werden.

3. Schule gehört zum Stadtteil

Genauso wie die Kirche und die Feuerwehr gehört die Schule ins Dorf, den Stadtteil, in die Stadt. Wir brauchen eine Schule, die in ihrem Stadtteil existiert und lebt. Das ist die alte Bürgerschule, also der gute Geist der Realschule, wenn sie so wollen.

Die war schon einmal Stadtteilschule, bevor es den Begriff überhaupt gab.

Für Städte und Gemeinden gilt: Schule vor Ort ist ein Schatz, ein Stück lebendiger Stadtteil und keine Belastung. Was im ländlichen Raum gilt, gilt in der Stadt schon lange: Schule und Stadtteil gehören zusammen.

Das bedeutet für die Schule auch: Sie muss sich einbringen vor Ort und mit den Gruppen und Aktiven im Stadtteil etwas nach vorne bringen.

Franz Müntefering hat das neulich so formuliert: "Soziale Gesellschaft gelingt nur vor Ort, entweder dort oder gar nicht."

Es kann nicht wie beim Bildungsgipfel darum gehen, sich um Kompetenzen für Schulen zwischen Bund, Land und Kommunen zu streiten. Wenn hier nicht alle Akteure in dieselbe Richtung ziehen, dann kommt nichts zustande.

Immer mehr Kommunen erkennen das und machen eigene Angebote für die Schulen und fördern aus eigenen Mitteln, nicht nur weil sie zuständig sind. Es ist jetzt auch eine Sache der Schulen, auf diese Angebote einzugehen und diese neue Anbindung zu nutzen.

4. Alle Kinder sind gleich, jedes Kind ist besonders.

Kein Kind darf in einen Rahmen gepresst werden, in den es nicht passt. Deshalb soll Kindern ein flexibles Lernen ermöglicht werden. Für jedes Kind das eigene Lerntempo.

Das sollte z.B. durch die Einführung einer gemeinsamen Eingangsstufe ermöglicht werden: Die ersten beiden Schuljahre in der flexiblen Eingangsstufe der Grundschule finden altersgemischt statt. Sie können von einem bis zu drei Jahren durchlaufen werden – je nachdem, welche Entwicklungszeit ein Kind benötigt. Erst dann folgt der Übergang in die dritte Klasse. Denn es geht in allen Schulformen darum, Kinder zu fördern und nicht zu beschämen.

Ich bleibe beim Beispiel Eingangsstufe: Kein Kind wird mehr vom Schulbesuch zurückgestellt, da es in der Schule die notwendige Förderung erhält.

Die Beschämung des Kindes durch Sitzenbleiben entfällt, weil die Dauer der flexiblen Eingangsstufe individuell festgelegt wird. Der altersübergreifende Unterricht begünstigt Handlungsorientierung und die Zusammenarbeit mit anderen Kindern. Gerade leistungsstarke Schülerinnen und Schüler können sich so schneller weiter entwickeln – ebenso wie schwächere Kinder.

Eine flexible Eingangsstufe für jede Grundschule.

Bislang ist die flexible Eingangsstufe an den niedersächsischen Grundschulen eine Ausnahme. Nur 2% der Grundschulen nutzen diese Innovation. Grund dafür ist die mangelhafte Ausstattung durch die Landesregierung. Lehrerinnen und Lehrer müssen mit geringen Mitteln kleine Wunder vollbringen, um eine flexible Eingangsstufe zu errichten.

Es geht uns Sozialdemokraten in allererster Linie um Schulen, die allen Kindern faire Chancen bieten.

Im Mittelpunkt steht nicht das Sortieren nach Unterschieden in Leistung, Herkunft und Geschlecht.

Vielmehr geht es um das Leistungsvermögen jedes einzelnen Kindes und um seine optimale Entwicklung.

Die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit höheren Abschlüssen muss steigen, die Zahl von Jugendlichen ohne Abschluss sinken.

Wir wollen diesen Weg gemeinsam mit Schülern, Eltern und Lehrern beschreiten und nicht von oben verordnen.

Um noch einmal auf den neuen Präsidenten der USA zu kommen:

"Bildung, das sei das Wichtigste überhaupt, wie sonst hätte ihr Enkel jemals soweit kommen können?" So die Worte einer 86-jährigen Frau.

Die alte Dame hieß Sarah Obama, ihr Enkel Barack Obama.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit